Wie sieht es eigentlich mit den Asylverfahren von russischen Staatsbürgern aus?
Seit Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine ist nicht nur die Zahl ukrainischer Geflüchteter gestiegen – auch viele russische Staatsbürger haben Sorge vor einer Rückkehr. Besonders betroffen sind Männer im wehrpflichtigen Alter, die eine Einberufung fürchten. Doch haben sie Chancen auf Asyl in Deutschland?
Steigende Asylanträge – aber kaum Schutz für russische Deserteure?
Die Zahl der Asylanträge russischer Staatsbürger hat sich in den letzten Jahren drastisch erhöht. Während im Jahr 2022 insgesamt 2.851 Erstanträge gestellt wurden, stieg die Zahl 2023 auf 7.663, was einem Anstieg um 168 Prozententspricht. Allein in den ersten drei Monaten des Jahres 2023 gab es fast so viele Anträge wie im gesamten Vorjahr. Doch die Anerkennungsquote bleibt niedrig. Von 1.530 bearbeiteten Anträgen russischer Wehrpflichtiger wurden bis September 2023 lediglich 92 positiv beschieden, während 156 abgelehnt und 1.282 anderweitig erledigt wurden – oft durch Rücknahme des Antrags oder aufgrund des Dublin-Verfahrens.
Auch 2024 setzt sich diese Entwicklung fort. In den ersten drei Monaten wurden bereits 1.592 Anträge russischer Staatsbürger gezählt. Bisher gibt es jedoch keine Anzeichen für eine signifikante Erhöhung der Schutzquoten.
Gerichtliche Entscheidungen: Unterschiedliche Maßstäbe für russische Wehrdienstverweigerer
Die restriktive Anerkennungspraxis zeigt sich auch in der Rechtsprechung deutscher Gerichte. Während einige Verwaltungsgerichte den Antragstellern Schutz gewähren, bleiben andere Gerichte zurückhaltend.
Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg: Kein genereller Schutz für Wehrdienstverweigerer
Im August 2024 entschied das Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg, dass russischen Grundwehrdienstleistenden kein subsidiärer Schutzstatus zusteht. Das Gericht argumentierte:
- Es sei nicht beachtlich wahrscheinlich, dass Wehrdienstleistende direkt in den Ukraine-Krieg geschickt würden.
- Seit Sommer 2022 gebe es keine gesicherten Berichte über den Einsatz russischer Grundwehrdienstleistender in der Ukraine.
- Die russische Regierung habe ein propagandistisches Interesse, den Eindruck zu vermeiden, dass Wehrpflichtige zum Kriegseinsatz herangezogen werden.
- Eine systematische oder großflächige Zwangsrekrutierung von Wehrpflichtigen zu Vertragssoldaten sei nicht hinreichend belegt.
Das OVG stellte zudem infrage, ob eine zwangsweise Rekrutierung für Russland überhaupt sinnvoll wäre, da unfreiwillige Soldaten eine geringere Kampfmoral hätten.
Das Verwaltungsgericht Berlin: Schutz wegen drohender Verwicklung in völkerrechtswidrige Handlungen und unmenschlicher Behandlung
Das Verwaltungsgericht (VG) Berlin hat mit seinen Urteilen vom 20. Januar 2025 (VG 33 K 504/24 A und VG 33 K 519/24 A) entschieden, dass die Kläger subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 AsylG erhalten. Maßgeblich dafür ist nicht die Wehrpflicht als solche, sondern die Folgen der Einberufung, insbesondere das hohe Risiko, in völkerrechts- oder menschenrechtswidrige Handlungen verwickelt zu werden oder selbst schwersten Schaden zu erleiden.
Nach Überzeugung des Gerichts hätten die Kläger nach einer Einberufung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen:
- Zwangsweise an völkerrechts- und/oder menschenrechtswidrigen Handlungen teilnehmen zu müssen.
- Selbst schwersten Schaden an Leib und Leben zu erleiden, etwa durch Einsätze in Kampfgebieten unter gefährlichen Bedingungen.
- Durch die russische Armee unter Druck gesetzt zu werden, einen Vertrag als Berufssoldat zu unterschreiben, um anschließend als Vertragssoldaten an die Front in der (Kern-)Ukraine entsandt zu werden.
- Auch ohne Vertragsunterzeichnung in Grenzregionen stationiert zu werden, wo bereits die Bedingungen unmenschlich und erniedrigend sind.
Das Gericht stützte sich auf aktuelle Erkenntnisse, die belegen, dass der russische Staat vermehrt Grundwehrdienstleistende zum Vertragsabschluss mit den Streitkräften zwingt, um sie anschließend in der Ukraine einzusetzen. Zudem sei bereits eine Stationierung als Grundwehrdienstleistender im russisch-ukrainischen Grenzgebiet (insbesondere in der Region Kursk) mit unmenschlicher und erniedrigender Behandlung verbunden.
Während das OVG Berlin-Brandenburg argumentierte, dass eine solche Entwicklung nicht in systematischer Weise nachgewiesen sei, sah das VG Berlin aufgrund neuer Berichte eine Gefährdungslage. Es kam zu dem Ergebnis, dass diese besonderen Umstände eine Schutzgewährung nach § 4 Abs. 1 AsylG rechtfertigen.
Damit stellte sich das VG Berlin ausdrücklich gegen die bisherige Einschätzung des OVG Berlin-Brandenburgund erkannte an, dass Grundwehrdienstleistende in Russland einer erheblichen Gefahr ausgesetzt sind – nicht nur durch den Wehrdienst selbst, sondern durch die Art und Weise, wie sie zunehmend unter Zwang für den Kriegseinsatz rekrutiert werden.
Fazit: Rechtsunsicherheit bleibt bestehen
Für russische Staatsbürger, die in Deutschland Asyl suchen, bleibt die Situation ungewiss. Die bisherigen Entscheidungen zeigen eine tendenziell restriktive, aber sehr unterschiedliche Bewertung durch die Gerichte. Die Schutzgewährung hängt stark davon ab, welche Erkenntnisse über die russische Mobilisierungspraxis in den Verfahren zugrunde gelegt werden. Ob sich eine progressivere Schutzpraxis durchsetzt, wird maßgeblich davon abhängen, wie höhere Gerichte die aktuelle Lage bewerten.
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